Montag, 8. November 2010

Chinas „Landkarte der blutigen Wohnungen“

Zwangsabrisse von Wohnhäusern sind in China mittlerweile die Regel. Mit Hilfe lokaler Behörden eignen sich Immobilienfirmen Bauland an. Dabei kommt es immer häufiger zu gewalttätigen und tödlichen Übergriffen.

Es ist mitten in der Nacht als eine Gruppe Schläger in das Haus eindringt. Plötzlich stehen etwa zehn Männer in der Wohnung von Wu Wenyuan. Die Männer sind mit Holzknüppeln bewaffnet. Sie beginnen sofort auf Wu und seinen Nachbarn Meng Fugui einzuschlagen, der in dieser Nacht bei seinem Freund übernachtet. Die Beiden ahnen, dass der Abrisstrupp kommen wird. Sie sind unzufrieden mit den Entschädigungsleistungen für den Zwangsabriss ihrer Wohnungen, wollten ihr Hab und Gut verteidigen. Doch gegen die brutalen Eindringlinge haben sie keine Chance. „Schlagt sie, bis sie tot sind“, hört Wu einen der Männer sagen, wie er später gegenüber chinesischen Medien berichtet. Als sich die Nachbarn nicht mehr wehren können, werden sie einfach auf die Straße geschmissen. Wu überlebt den Angriff. Sein Nachbar erliegt im Krankenhaus seinen Verletzungen. Der Vorfall ereignete sich vor wenigen Tagen im Dorf Guzhai in der Nähe der nordchinesischen Stadt Taiyuan. Deren Stadtverwaltung will eine Hauptstraße ins Zentrum ausbauen - dafür müssen die Dorfbewohner weichen.

Gewalttätige Vertreibungen und Zwangsabrisse von Wohnungen wie in Guzhai sind in China schon lange kein Einzelfall mehr. Wirtschaftswachstum und zunehmende Urbanisierung lassen die Millionenstädte der Volksrepublik aus allen Nähten platzen. Der Bedarf an Bauland ist riesig und Immobilienspekulanten heizen die Situation weiter an. Mit Hilfe lokaler korrupter Funktionäre eignen sich Immobilienfirmen Bauland an. Dafür werden massenhaft Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben. Entschädigungen, wenn sie gezahlt werden, fallen meist gering aus. Wer sich wehrt und seine Wohnung nicht verlassen möchte, muss damit rechnen, dass es ihm so wie Wu Wenyuan und Meng Fugui ergeht. Mittlerweile rücken brutale Zwangsenteignungen immer weiter in den Fokus der Öffentlichkeit. Chinesische Staatsmedien berichten regelmäßig über neue Fälle. „Chinas Liste der brutalen und blutigen Wohnungsabrisse wurde um zwei weitere Einträge erweitert“, hieß es in einem Bericht der „China Daily“ von Anfang November. Der Bericht griff die Geschehnisse in Guzhai und einen weiteren Vorfall in Heilongjiang auf. In der nordöstlichen Provinz zündete sich ein verzweifelter Mann aus Protest gegen den bevorstehenden Abriss seines Hauses selbst an.

Auch im Internet kocht das Thema hoch. So hat ein chinesischer Internetnutzer, der lieber anonym bleiben möchte, ein Projekt ins Leben gerufen, das sich „Landkarte der blutigen Wohnungen“ nennt. Auf einer interaktiven Landkarte von China sind Orte markiert, an denen es bei Zwangsenteignungen zu gewalttätigen Übergriffen kam. Das Projekt nutzt das Programm „Google maps“, um über weiterführende Links Hintergrundinformationen zu den verschiedenen Ereignissen zu verbreiten. Unterschiedliche Symbole geben Auskunft über die Art der Vorfälle oder darüber, ob in den Medien schon darüber berichtet wurde. Jeder der will, kann Zwangsenteignungen melden, die nach einer Überprüfung auf der Karte eingetragen werden. „Es ist wichtig neue Wege zu finden, die Sorgen der Menschen wiederzugeben und das Problem der Zwangsenteignungen einzudämmen“, erklärte der Initiator der Landkarte vor einigen Tagen gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua. Obwohl die Karte erst seit Anfang Oktober online ist, wurden schon über 70 Fälle eingetragen. Mittlerweile haben über 425 000 Menschen die Internetseite besucht.

In der anhaltenden Diskussion über die Zwangsenteignungen, geraten vor allem die bestehenden gesetzlichen Regelungen in die Kritik. Mehrfach haben chinesische Rechtsexperten die Regierung aufgefordert, die Gesetze zu überarbeiten, die es den lokalen Behörden und Bauunternehmen zu einfach machen, Hausbewohner zu enteignen. Lokalregierung müssen lediglich öffentliches Interesse anmelden, um Enteignungen vorzunehmen. Eine Reform zur Stärkung von Eigentumsrechten steht schon länger an, wurde aber bisher nicht umgesetzt. Experten vermuten, dass sich die Lokalregierungen gegen die Reform stemmen, da diese an den Landverkäufen verdienen. Im Brennpunkt stehen besonders ländlichen Gebiete. „Angesichts der Tatsache, dass es kaum noch nutzbare städtische Grundstücke gibt, sollte die Gesetzgebung vor allem die Verfahrensweise bei Enteignungen auf dem Land standardisieren, besonders die Rechte von Bauern besser schützen“, erklärte Ma Huaide, Professor an der chinesischen Universität für Politikwissenschaften und Jura vor kurzem gegenüber der „China Daily“. Noch deutlicher wird Yu Jianrong, Professor der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften. „Es kann nicht sein, dass Zwangsabrisse der Motor für Chinas Urbanisierung sind“, schrieb Yu Anfang November in seinem Blog auf Sina.com. „Fortschritt sollte niemals auf Kosten der grundlegenden Rechte von Menschen erreicht werden. Auch der Abriss aufgrund öffentlichen Interesses sollte rechtlich geregelt sein“, so Yu weiter.

Doch noch sind viele Betroffene der Willkür der lokalen Behörden und Baufirmen ausgesetzt. Die engagieren professionelle Abrissunternehmen, denen jedes Mittel recht ist, um Bewohner zu vertreiben. Wer sich wehrt, muss damit rechnen wie Meng Fugui aus dem Dorf Guzhai tot geprügelt zu werden. Dessen Fall wird mittlerweile von der Polizei untersucht. Laut chinesischen Medienberichten wurden fünf Personen verhaftet, die für ein Sicherheitsunternehmen in der Stadt Taiyuan arbeiten. Behördenvertreter versuchten, mit dem Sohn des Opfers über eine Entschädigungszahlung zu verhandeln. Doch dieser beharrte auf die Aufklärung des Vorfalls.

(c) hao.de

News aus China

News, Berichte, Reportagen, Gedanken und Diskussionen über China

Aktuelle Beiträge

Gebaut wurde schon! Und...
Gebaut wurde schon! Und nach nicht einmal einem Jahr...
girico - 11. Jun, 14:41
Kim Jong Il: Das Phantom...
Kim Jong Il: Er war der "Irre mit der Bombe": allgegenwärtig...
sergiohh - 20. Dez, 08:06
Presseschau: 10/12/11
Kinderspielzeug und -kleidung aus China haben einen...
sergiohh - 10. Dez, 13:27
Presseschau: 26/11/11
„China gibt seine Klimaziele bekannt“ titelte am Mittwoch...
sergiohh - 26. Nov, 05:55
Presseschau: 19/11/11
20 Tote, 44 Verletzte bei Unfall mit Kindergartenbus Neun...
sergiohh - 19. Nov, 04:00

Links

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Status

Online seit 5441 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 11. Jun, 14:42

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren