Samstag, 26. Februar 2011

China in der „Elternfalle“

Lernen bis zum Umfallen – Die in den USA geborene Chinesin Amy Chua verkauft ihre strengen Erziehungsmethoden als chinesisches Erfolgsmodell. Das überraschend gute Abschneiden Schanghais bei der Pisa-Studie scheint ihr oberflächlich gesehen Recht zu geben. Doch halten immer mehr chinesische Experten und Eltern das eigene Bildungssystem für überholt.

„Wenn ich groß bin, möchte ich als Taekwondo-Profi für China die Olympischen Spiele gewinnen oder als Polizist in Australien arbeiten“, erzählt der zehnjährige Li Junxing. Auch chinesische Schulkinder haben Träume. Ihnen bleibt aber nur selten Zeit, diesen nachzuhängen. Wie die meisten chinesischen Schüler hat Junxing einen vollgepackten Stundenplan. Auf den regulären Unterricht folgen Lerngruppen, Sprachunterricht und andere Zusatzaktivitäten. Bis 16 Uhr hat Junxing, der in die 6. Klasse eines modernen Internats geht, täglich Unterricht. Danach muss er Hausaufgaben machen. Zusätzlich bekommt er Klavierunterricht, Taekwondostunden und zweimal die Woche privaten Englischunterricht. „Ich habe schon genug Zeit zu spielen. Nur wenn Prüfungen anstehen, wird es eng“, sagt der Pekinger Schüler.

Häufig endet der Schultag eines chinesischen Schülers mit Hausaufgaben und Privatunterricht nicht vor 21 Uhr. „Wir wollen unseren Kindern die beste Bildung ermöglichen“, sagt Junxings Mutter Zhu Ying, die wie ihr Mann im Finanzbereich arbeitet. Sie weiß, dass sie ihrem Sohn viel zumutet, doch nur so habe er später die Chance auf eine gutbezahlte Arbeit. Der Konkurrenzkampf um die beste Ausbildung hat sich in China im letzten Jahrzehnt verschärft. Auch weil das chinesische Bildungssystem die Schulung von Eliten im Blick hat und nicht auf die breite Masse abzielt. Als „Elternfalle“ betiteln Chinas Medien häufig dieses Dilemma. „Wir Eltern haben keine große Wahl. Wir sind diesem gesellschaftlichem Druck ausgesetzt“, sagt Zhu Ying. Wie viele chinesische Mütter glaubt sie aber nicht daran, dass der Bildungsdrill in ihrem Land ein Vorbild für andere Nationen ist. Zurückhaltend und kritisch waren dann auch die chinesischen Reaktionen auf das Buch „Mutter des Erfolgs“ der „Tigermutter“ Amy Chua, in dem sie beschreibt, wie sie ihre Töchter mit strenger Disziplin auf Erfolg trimmt. Denn chinesische Eltern sehen sich eher als Opfer eines Bildungssystems, dass sie dazu zwingt, ihre Kinder mit harter Hand anzutreiben. Dies wie Amy Chua als Erfolgsrezept zu verkaufen, damit können sich nur wenige Chinesen identifizieren.

Ob gewollt oder nicht, der Druck auf chinesische Schulkinder ist groß. Das Ziel chinesischer Eltern bleibt – sie alle wollen sehr gute Noten für ihre Kinder. Nur diese ermöglichen den Zugang zu guten Universitäten, Grundvoraussetzung für einen gut bezahlten Job. Bei der Bewertung der Schüler setzt Chinas Schulsystem schon bei den Jüngsten auf regelmäßige Tests. Ohne hohe Punktzahlen bleiben den Kindern die guten Mittelschulen verschlossen. Gleiches gilt in der Prüfung der 5. Klasse, die bestimmt, ob man eine der besseren Oberschulen besuchen kann. Am Ende entscheidet die wichtige Aufnahmeprüfung („Gaokao“), ob man einen Studienplatz bekommt. Deshalb lernen chinesische Kinder so intensiv für Prüfungen, deshalb konzentrieren sie sich vor allem aufs Auswendiglernen. Und deshalb ist ihr Leben ein einziger Wettbewerb.

Nicht erst seit die Autorin Amy Chua mit ihrer These der „überlegenen chinesischen Mütter“ den Westen aufgeschreckt hat, diskutieren Experten, ob China nun auch in Sachen Bildung vorneweg marschiert. Schon die aktuelle Pisa-Studie ließ Viele neidvoll nach China blicken. Zum ersten Mal hatten Schüler vom chinesischen Festland aus der Millionenmetropole Schanghai an der Studie teilgenommen und gleich herausragende Ergebnisse in Mathematik, Naturwissenschaften und auch beim Lesen und Verstehen von Texten erzielt. Doch während man in Europa und den USA voller Anerkennung auf das gute Abschneiden der chinesischen Schüler schaut, warnen chinesische Bildungsexperten davor, die Ergebnisse überzubewerten. So schreibt Jiang Xueqin, Bildungsexperte der Pekinger Universität, im „Wall Street Journal“, Chinas Schulsystem sei zwar „mit seinen fordernden Eltern, ambitionierten Schülern und seiner Testbesessenheit das strengste der Welt“. Während die Welt dieses System jetzt lobe, sei China aber gerade dabei, dessen Schwächen zu begreifen. Viele chinesische Schulen würden daran scheitern, Schüler auf eine höhere Bildung und eine wissensorientierte Wirtschaft vorzubereiten.

„Wie kann man eine starke Vorstellungskraft und Kreativität entwickeln, wenn man nur auswendig lernen darf, was in den Lehrbüchern steht. Wenn einem gesagt wird, dass es nur eine richtige Antwort auf eine Frage gibt“, heißt es in einem Kommentar der Zeitung „China Daily“, im Dezember kurz nach der Bekanntgabe der Pisa-Ergebnisse. Auf Kosten einer glücklichen Kindheit würden chinesische Kinder zu professionellen Prüflingen herangezogen. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat Chinas Regierung Fehlentwicklungen im Bildungssystem erkannt. „In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die chinesische Politik darum bemüht, die Prüfungsorientierung des Systems zu mindern“, heißt es in einem Dokument der OECD, das sich mit dem chinesischen Bildungssystem befasst. Auch den Arbeitsaufwand der Schüler versuche China zu reduzieren.

Doch ein Blick in den Alltag von chinesischen Schulkindern genügt, um sich davon zu überzeugen, dass diese Anstrengungen bisher noch nicht gefruchtet haben. „An manchen Tagen schlafen mir die Kinder im Unterricht ein. So erschöpft sind sie“, sagt Lu Hua, die an einer der vielen privaten Sprachschulen in Peking Englisch unterrichtet. Schon Dreijährigen habe sie Englisch beibringen sollen, die noch kaum ihre eigene Sprache beherrschten.
Häufig wird auch übersehen, dass an dem Pisa-Test lediglich Schüler aus Schanghai und aus Hongkong teilgenommen haben. Doch diese sind bei weitem nicht repräsentativ für das ganze Land. Schanghai hat als reiche Hafenstadt für das chinesische Festland traditionell immer eine Vorreiterrolle eingenommen, kann viel Geld in Bildungseinrichtungen fließen lassen.

Und Schanghais Erfolg beruht gerade darauf, dass man vom restlichen Lehrsystem des Landes abweicht. Laut dem Pisa-Chef bei der OECD Andreas Schleicher wird der Unterricht in vielen Schulen Schanghais nicht mehr aufs Pauken von Faktenwissen reduziert. Vielmehr werde Unterricht gegeben, der weit über das bloße Reproduzieren von Wissen hinausgehe. Lehrer würden individuell auf die Bedürfnisse ihrer Schüler eingehen. Nimmt man hinzu, dass auch Schanghais Schüler immer noch ein äußerst hohes Arbeitspensum absolvieren und routinierte Prüflinge sind, kommt man einer Erklärung des chinesischen Pisa-Erfolgs sehr nah. Hongkong, dessen Schüler den vierten Platz bei Pisa belegten, ist ein noch offensichtlicherer Sonderfall. Mit seiner Vergangenheit als britische Kronkolonie gilt auch bei der Bildung das Motto „ein Land, zwei Systeme“. Mögen einige andere chinesische Großstädte noch an dieses Spitzenniveau heranreichen – die Bedingungen in den ländlichen Regionen sehen deutlich schlechter aus. Schon deshalb sind Lobeshymnen auf Chinas Bildungssystem mit Vorsicht zu genießen.

(c) hao.de

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