Samstag, 7. Mai 2011

„Jeder, der sich frei ausdrücken möchte, hat diese Angst“

Seit über einen Monat ist Ai Weiwei in Haft. Pekings Kunstszene befindet sich in Schockstarre.

„Ein Land, das die Wahrheit zurückweist, Veränderungen verweigert und dem es am Geist der Freiheit mangelt, ist hoffnungslos“, hat Ai Weiwei einst in einem seiner vielen Blogeinträge geschrieben. Seit über einem Monat ist der bekannte Gegenwartskünstler nun verschwunden. Seither wartet Ai Weiweis Familie auf eine Stellungnahme der Sicherheitsbehörden, muss um das Wohlergehen Ais bangen. Den von ihm beschriebenen Mangel an Freiheit spürt Ai Weiwei nun in drastischer Form. Mit seiner Festnahme am 3. April am Pekinger Flughafen ist die Hoffnung all der Chinesen gesunken, die sich in ihrem Land frei äußern und einmischen wollen. Seit Monaten geht Chinas Führung verstärkt gegen Kritiker vor. Und der Fall Ai Weiwei zeigt, dass auch Künstler nicht mehr vor den Repressionen des Staates sicher sind. Wie kann man unter diesen Bedingungen als Künstler in China arbeiten?

Eine Frage, die sich viele Künstler in Peking stellen. Nach der Festnahme Ai Weiweis befindet sich die Kunstszene der chinesischen Hauptstadt in einer Schockstarre. Im beliebten Künstlerviertel „798“ ist davon auf den ersten Blick nichts zu spüren. Chinesische und ausländische Touristen schlendern über das alte Industriegelände, lassen sich von Straßenmalern porträtieren, sitzen in einem der zahlreichen Cafés oder schauen sich in Galerien um. Kaum etwas erinnert an Ai Weiwei, der 2001 maßgeblich an der Entstehung dieser Kunstzone beteiligt war. Doch der friedliche Schein trügt. Zwar hat Chinas Regime durchaus den wirtschaftlichen Nutzen des wachsenden Kunstmarktes im eigenen Land erkannt. Frei entfalten darf sich dieser deswegen noch lange nicht. „Nach unserem Gefühl befinden wir uns gerade in der schlimmsten Phase seit 1989. Die Politik ist rückwärtsgewandt, die Rede- und Meinungsfreiheit wird eingeschränkt wie lange nicht“, sagt Gao Zhen. Zusammen mit seinem Bruder Gao Qiang bildet er das international bekannte Künstlerduo „Gao-Brüder“. Im Viertel „798“ haben sie ihr Atelier, das etwas versteckt liegt. Es ist ihnen verboten, es für den Publikumsverkehr zu öffnen. Die Verhaftung Ai Weiweis hat die Brüder geschockt. Wie so viele hatten sie gedacht, Ais Berühmtheit und der Schatten seines Vaters Ai Qing, dessen patriotische Gedichte noch heute in Chinas Schulen gelehrt werden, könnten ihm als Schutzschild dienen. „Jetzt zeigt sich, dass es egal ist, welchen Hintergrund du hast. Sobald die Geduld der Regierung am Ende ist, schlägt sie zu“, sagt Gao Zhen.

Es gibt viele Grenzen, die Künstler in China nicht übertreten dürfen. Doch vor allem kämpfen sie mit der Willkür der Behörden. Denn ist gibt keine festen Regeln, was noch im erlaubten Rahmen ist und was nicht. Die Gao-Brüder testen mit ihrer Kunst immer wieder aus, wie weit sie gehen können. Über Jahre durften sie nicht ausreisen. In China konnten sie viele ihre Werke bis heute nicht ausstellen. Ihre Kunst ist politisch, setzt sich häufig mit Chinas Geschichte auseinander. Besonders die Kulturevolution, unter der auch ihre Familie zu leiden hatte, spielt eine große Rolle in den Werken der „Gao-Brüder“. Berühmt ist ihre Bronzeinstallation „The Execution of Christ“. Mao-Figuren in Lebensgröße richten ihren Gewehrlauf auf Jesus, eine von ihnen schaut zu Boden. „Wir versuchen mit unserer Kunst und in dem was wir sagen, immer klar unsere Meinung zu äußern. Natürlich erschwert das unsere Arbeit “, erklärt Gao Zhen.

Die Lage in China ist angespannt. Offener Protest gegen die Verhaftung Ai Weiweis ist in dieser Situation kaum möglich. Eine von Künstlern geplante Demonstration für Ai im „798“ wurde im Vorfeld verhindert. Kritik an den Behörden ist, wenn überhaupt noch, im Internet möglich. Doch auch dort wird es immer schwieriger, die Zensur zu umgehen. Virtuelle Unterschriftensammlungen oder Internetseiten, auf denen man Poster mit der Forderung „Befreit den Genossen Ai Weiwei“ herunterladen kann, gehören zu den Aktionen, die Solidarität mit Ai Weiwei zeigen. Protest oder kritische Kunst – in China gibt es derzeit kaum Raum für abweichende Meinungen. Der Videokünstler Wang Bo versucht den winzigen Spielraum zu nutzen, der geblieben ist. Mit einem neuem Trickfilm dokumentiert er den Fall Ai Weiwei und die Grenzen der Meinungsfreiheit in China. Ein Nachrichtensprecher beginnt seinen Bericht: „Es war einmal ein Chinese, der Sonnenblumenkerne verkaufte ...“. Doch bevor er den Satz beenden kann, wird er von seinem Nachrichtenstuhl gezerrt. Der nächste Sprecher kann nur noch „Es war einmal ...“ sagen, bevor er weggeschnappt wird. Der letzte traut sich nur noch einen Seufzer auszustoßen, der sich anhört wie der Name Ai. Mit den Sonneblumenkernen spielt Videokünstler Wang Bo auf eines der bekanntesten Werke Ai Weiweis an. Für eine Ausstellung im „Tate Modern“ in London ließ er 100 Millionen Sonnenblumenkerne aus Porzellan anfertigen. So zeichnete er ein Bild Chinas, in dem das Individuum in der Masse untergehen zu droht.

Auch die Kunst der Gao-Brüder setzt sich immer wieder mit dem Mangel an individueller Freiheit auseinander. Schon deshalb stellt sich den Künstlern die Frage, ob ihnen ein ähnliches Schicksal wie Ai Weiwei droht. „Jeder, der sich frei ausdrücken möchte, hat diese Angst. Um uns verschwinden immer wieder Menschen. Das passiert die ganze Zeit“, so Gao Zhen. Die Verhaftung Ais interpretiert er als Warnung an alle, es mit Kunst und Kritik nicht zu weit zu treiben. „Kreativität ist die Kraft, die Vergangenheit abzulehnen, den Status Quo zu verändern und neue Potenziale zu suchen“, hat Ai Weiwei einmal geschrieben. Chinas Führung ist offenbar nicht bereit, ein derartiges Kunstverständnis zu akzeptieren.

(c) hao.de

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