Inmitten der Masse

1,3387 Milliarden Menschen leben in China. Der Wettbewerb um eine glückliche Zukunft ist hier besonders hart.

Es ist bereits nach 21 Uhr als Zhu Ying die private Englischschule erreicht, um ihren Sohn abzuholen. Über zwei Stunde quält sie sich mit ihrem Auto zweimal die Woche durch den Pekinger Verkehr, damit der zehnjährige Li Junxing sein Englisch verbessern kann. Es sind lange Tage für Li Junxing, dem während des Unterrichts auch schon mal die Augen zufallen. Seine Mutter ist zwar besorgt, dass sie ihrem Sohn zu viel zumutet. Aber nur so, glaubt sie, hat er später eine Chance auf einen gutbezahlten Job. „Der gesellschaftliche Druck auf unsere Kinder, aber auch auf uns, die beste Bildung für unsere Kinder zu ermöglichen, ist groß“, sagt Zhu Ying. Bis 16 Uhr hat Li Junxing, der in die 6. Klasse eines modernen Internats in Peking geht, normalerweise täglich Unterricht. Danach muss er Hausaufgaben machen. Zusätzlich bekommt er Klavierunterricht, Taekwondostunden und den privaten Englischunterricht. „So wollen wir unserem Sohn eine Welt eröffnen, die seine Schule ihm nicht bieten kann“, sagt seine Mutter. Vor allem aber hofft sie, dass ihr Sohn später mit seinen Zusatzfähigkeiten punkten kann. Viel Freizeit, um zu spielen oder Freunde zu treffen, bleibt da nicht. Ein normaler Schultag mit Hausaufgaben und Privatunterricht dauert für chinesische Schulkinder oft bis in den späten Abend. Wer Schüler im bevölkerungsreichsten Land der Welt ist, steht im ständigen Wettbewerb. Nur wer aus der Masse heraussticht, hat gute Zukunftschancen. So wollen Chinas Eltern vor allem eins - exzellente Noten für ihre Kinder. Nur diese ermöglichen den Zugang zu guten Universitäten, Grundvoraussetzung für eine gute Anstellung.

Dabei ist ein Studium schon lange keine Jobgarantie mehr. Denn die Zahl der Universitätsabsolventen steigt stetig und es fehlt an genügend Arbeitsplätzen für junge Akademiker. „Ameisenvolk“ nennen chinesische Soziologen das Heer an Absolventen, die sich mit schlechtbezahlten Jobs über Wasser halten und nur in Gruppen weit draußen am Stadtrand der großen Metropolen in billigen Unterkünften wohnen können. Mehr als eine Million soll es von ihnen geben.

Während gut ausgebildete Chinesen mit der millionenfachen Konkurrenz zu kämpfen haben, bleibt anderen der Zugang zu einer regulären Schulbildung von Anfang an verwehrt. Etwa 30 Millionen Wanderarbeiterkinder im schulfähigen Alter gibt es laut OECD, deren Eltern auf der Suche nach Arbeit vom Land in chinesische Großstädte strömen. Zwei Drittel dieser Kinder kommen mit ihren Eltern in die Städte, der Rest bleibt bei Verwandten in den Heimatdörfern. Die Wanderarbeiterkinder in den Großstädten haben zwar gute Schulen vor der Haustür, können diese aber nur selten besuchen. Weil sie wie ihre Eltern keine Stadtbürgerschaft (Hukou) besitzen, werden sie in vielen Metropolen von Sozialleistungen ausgeschlossen. In der chinesischen Hauptstadt Peking wird ihnen ein kostenloser Schulplatz bis einschließlich der Mittelschule mittlerweile offiziell zwar garantiert. Die dafür notwendigen Dokumente bekommt aber kaum jemand. Zudem müssen die Eltern noch eine „Spende“ an die jeweilige Schule entrichten. Das Geld dafür fehlt. So sind am Stadtrand von Peking zahlreiche private Schulen für Wanderarbeiterkinder entstanden, die nur geringe Schulgebühren fordern. Eine Parallelwelt, die die Behörden offenbar nicht mehr dulden wollen. Mit dem Abriss von 24 solcher Schulen wurde Mitte August begonnen. Als Versuch, die Wanderarbeiter loszuwerden, bezeichnet der Pekinger Anwalt Tian Kun diese Maßnahme. „Die Behörden zielen auf die Kinder, um die Wanderarbeiter aus der Stadt zu vertreiben“, sagte Tian gegenüber der Zeitung „Global Times“. Offiziell begründen die Bezirke ihr Vorgehen damit, dass es sich bei den Wanderarbeiterschulen um illegale Einrichtungen handle, Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten worden seien. Doch in Wahrheit geht es wohl um die Gewinnung von Bauland.

Denn Chinas Metropolen platzen aus allen Nähten. Jeder zweite der mittlerweile 1,3387 Milliarden Chinesen lebt mittlerweile in Großstädten. So wächst auch Peking unaufhörlich weiter – und die Probleme wachsen mit. Autokolonnen kriechen beinahe rund um die Uhr durch die Straßen. Und dass, obwohl die Neuzulassungen von Autos deutlich eingeschränkt wurden. Einmal in der Woche muss jeder Pekinger gar sein Auto ganz stehen lassen. Auch das U-Bahnnetz ist völlig überlastet, obwohl es stetig ausgebaut wird. Auf dem Weg zur Arbeit muss man an manchen U-Bahnstationen 40 Minuten warten, um überhaupt in die Station zu kommen.

Urbanisierung und Wirtschaftsboom haben nicht nur Folgen für die Menschen in den Städten. Der Energiehunger von Metropolen und Industrie beeinflusst auch das Leben der Landbevölkerung. Wie sehr, lässt sich in der Inneren Mongolei im Nordosten Chinas sehen. 2009 ist die Autonome Region, die an den eigentlichen mongolischen Staat grenzt, zum größten Kohleproduzenten Chinas aufgestiegen. Wirtschaftlich profitiert davon besonders die Mehrheit der knapp 20 Millionen Han-Chinesen. Ein Großteil der etwa 4 Millionen Mongolen in der Region beklagt dagegen die Zerstörung des Graslandes durch die Kohleminen und damit der traditionellen Lebensweise der Mongolen als Hirten und Nomaden. Immer wieder kam es in den letzten Monaten zu Auseinandersetzungen zwischen Mongolen und Chinesen. Die Folgen des massiven Kohleabbaus werden laut Umweltschützern bald alle Menschen in der Provinz zu spüren bekommen. „Das Wasser in der Steppe der Inneren Mongolei ist knapp. Wasserintensive Industrien wie der Kohleabbau werden das Grasland in wenigen Jahren in eine Wüste verwandeln“, sagt Chen Jiqun von der NGO „Echoing Steppe“, die sich für den Erhalt des mongolischen Weidelandes einsetzt.

Chinas Regierung muss etwa 1,4 Milliarden Menschen versorgen. Die Ressourcen sind knapp, die Zerstörung der Umwelt hat dramatische Folgen. Auch deshalb hält Chinas Führung an der „Ein-Kind-Politik“ fest, mit der man seit den 1980er Jahren das Bevölkerungswachstum bremst. Um nur noch 0,57 Prozent jährlich wuchs die Bevölkerung in den letzten zehn Jahren laut dem nationalen Statistikamt. Doch die „Ein-Kind-Politik“ hat auch ungewollte Nebenwirkungen. Die Gesellschaft altert aufgrund der Geburtenkontrolle deutlich schneller. Und wegen der traditionellen Bevorzugung männlicher Nachkommen gibt es deutlich mehr Männer als Frauen in China. Viele junge Männer bleiben so zwangsweise allein. Und dass, obwohl der Druck aus Gesellschaft und Familie groß ist, zu heiraten und eine eigene Familie zu gründen.

Der zehnjährige Schüler Li Junxing aus Peking muss sich vorerst lediglich um gute Noten kümmern. Ob er später studieren kann, oder ob er einmal eine Ehefrau findet, ist für ihn noch ganz weit weg. Seine Mutter macht sich über diese Dinge aber schon jetzt viele Gedanken. Denn in China, im bevölkerungsreichsten Land der Welt, ist der Wettbewerb um eine gute Zukunft besonders hart.

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