Vertrauensverluste auf allen Seiten

Egal mit welcher neuen Provokation Nordkorea die internationale Gemeinschaft und den südkoreanischen Nachbarn auch schockt – die chinesische Führung unterlässt jegliche öffentliche Kritik an ihrem alten Verbündeten Pjöngjang. Auch nach dem nordkoreanischen Artilleriebeschuss der südkoreanischen Insel Yeonpyeong vor rund einer Woche, bei dem vier Menschen ums Leben kamen, wartete man vergebens auf eine Verurteilung des Angriffs durch Peking. Doch mag man den neuesten Enthüllungen der Internetplattform Wikileaks glauben schenken, dann ist die Freundschaft beider Staaten nur noch oberflächlich intakt. China, das sich mehrfach für Frieden und Stabilität in Ostasien eingesetzt hat, scheint zunehmend von den unberechenbaren Provokationen Nordkoreas frustriert.

Ein weiteres Beispiel sind die Berichte über Fortschritte des nordkoreanischen Atomprogramms. „Gegenwärtig wird der Bau eines Leichtwasserreaktors aktiv vorangetrieben und eine moderne Uran-Anreicherungsanlage mit mehreren Tausend Zentrifugen ist in Betrieb, um die Versorgung mit Treibstoff sicherzustellen“, hieß es am Dienstag in der staatlichen Zeitung „Rodong Sinmun“. Das Nuklearprogramm diene zivilen Zwecken und solle noch weiter ausgebaut werden. Nach dem Angriff auf eine südkoreanische Insel werteten Analysten auch diese Meldung als weiteren Versuch Nordkoreas, Verhandlungen mit den USA zu erzwingen.

Dazu passen die nun von Wikileaks enthüllten Depeschen. Dort wird der chinesische Vizeaußenminister He Yafei mit den Worten zitiert, Nordkorea wolle direkte Gespräche mit den USA und benehme sich wie ein „verzogenes Kind“, um die Aufmerksamkeit des „Erwachsenen zu bekommen“. He Yafei habe die Äußerungen nach Nordkoreas Raketentest im April 2009 getätigt. Der Konflikt um den Untergang des südkoreanischen Kriegsschiffs „Cheonan“ im März, das laut internationalen Ermittlern durch einen nordkoreanischen Torpedo versenkt wurde, oder eben der neueste Konflikt nach dem Angriff auf eine südkoreanische Insel – all das dürfte die Meinung chinesischer Diplomaten über den Verbündeten nicht verbessert haben. Seit Monaten hatte sich Peking um eine Wiederaufnahme der Sechs-Parteien-Gespräche zum nordkoreanischen Atomprogramm bemüht. Doch nun wollen sich Unterhändler der beiden Koreas, der USA, Chinas, Japans und Russlands voraussichtlich noch nicht einmal zu einem Krisengespräch in multilateraler Runde zusammenfinden. Auf der anderen Seite wird sich der gescholtene nordkoreanische Führer Kim Jong Il so seine Gedanken machen, inwieweit er China noch trauen kann. Die enthüllten Dokumente über Chinas Haltung zu Nordkorea dürften aber auch das Verhältnis Washingtons und Pekings trüben. Vertrauensverluste auf allen Seiten.

War eine gewisse Unzufriedenheit Chinas über Nordkorea schon vor den Wikileaks-Enthüllungen zu erkennen, so geben weitere Dokumente überraschendere Einblicke. Eine kleine Sensation wäre es, sollte China tatsächlich bereit sein, ein wiedervereinigtes Korea unter Südkoreas Kontrolle zu akzeptieren. So liest es sich zumindest aus südkoreanischen Quellen, die Wikileaks veröffentlichte. Nordkorea habe als „Pufferstaat“ nur noch wenig Wert für China, zitierte im Januar dieses Jahres der damalige südkoreanische Vizeaußenminister und heutige Sicherheitsberater Chun Yung Woo chinesische Offizielle. Im Falle einer Wiedervereinigung würde China allerdings US-Truppen auf heutigem nordkoreanischem Gebiet eindeutig „nicht willkommen“ heißen, so Chun.

Wie aussagekräftig diese Passage wirklich ist, kann nur schwer eingeschätzt werden, sind es doch keine direkten Äußerungen von chinesischer Seite. Es bleibt viel Raum für Spekulationen. Doch zumindest eröffnen die Wikileaks-Enthüllungen eine Gedankenwelt, in der auch China eines Tages einer Wiedervereinigung beider Koreas zustimmen könnte. Interpretationen, dass China mit aller Macht an Nordkorea festhalte, um die derzeit in Südkorea stationierten etwa 30 000 US-Soldaten auf Distanz zuhalten, könnten demnach bald überholt sein.

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